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02-Jul-2016 -- In Gedanken
Ab nach Sibirien: Vom Yssykköl zum Baikalsee führen wir unseren Toyo 6000 Kilometer auf dem sibirischen Trakt spazieren. Vorbei an qualmenden Industrieschloten, ehemalige Gulags, (Atom-)Test-Geländen und einem „weißen Grab“ - die Steppe von Kasachstan bietet Platz für historischen und aktuellen Gigantismus. Auf der längsten Straße der Welt innerhalb eines Landes entdecken wir unerwartet kulturellen Reichtum in den Metropolen Russlands zwischen Sümpfen, Birkenwäldern und Moskito-Überfällen. Dies ist die Fortsetzung von 52°N 75°E.
Auf DIE 10 Kilometer kommt es jetzt auch nicht mehr an. Bernd reißt das Lenkrad herum. Waren wir doch tatsächlich an der einfachsten Konfluenz unserer Sibirien-Tour vorbeigedengelt. Unser Hirn war schon bei den bevorstehenden Grenzformalitäten oder vielleicht noch in der zurückliegenden Bezirksmetropole Semei. Weltweit eher bekannt unter dem Namen Semipalatinsk als Synonym für irrsinnige Folgen des globalen Wettrüstens. Polygon (russisch für „Schießplatz") war der Spitzname für das Atomtestgelände der ehemaligen Sowjetunion und Semipalatinski war das Verwaltungszentrum. Hier wohnten die Familien der Beschäftigten des Testgeländes.
Das Dorf Beskaragai war ordentlich herausgeputzt. Vor jedem kleinen Holzhaus gab es ein grünes Holzgerüst, worauf die lokal erzeugten Waren feilgeboten wurden. Honig, Kirschen, Erdbeeren sahen wirklich lecker aus und eigentlich ein Anlass, sofort auf die Bremse zu treten. Den Reflex unterband ein Blick auf das GPS: 45 Kilometer Luftlinie nach Kurtschatow. Benannt nach dem wissenschaftlichen Leiter des Testgeländes und damit dem Vater der sowjetischen Atombombe war hier die Schaltzentrale. Windrichtung genau nordöstlich (zu uns her) und weiter ins Altai-Gebirge.
Bei der Planung unserer Reise war lange offen, welche Route wir nehmen würden. Schon im letzten Jahr waren wir bei den Konfluenz-Besuchen in ein ballistisches Testgebiet geraten. Daher wurde dieses Jahr vorher nachgelesen, was uns erwartete. Es finden sich zwangläufig kaum öffentlich zugänglich Informationen, da die Aktivitäten in den Weiten der kasachischen Steppe meist militärisch motiviert und daher streng geheim waren oder heute noch sind. Schon allein die Namen der geschlossenen Zonen fand man meist auf keiner Karte. Heute sind einige Sperrgebiete aufgehoben, andere sind zwar noch gesperrt, aber es gibt weder Absperrungen, noch Kontrollen. Da findet man so alles, was man beim Konfluenz-Besuchen nicht finden will: Vom Uranabbau bis zur Milzbrandproduktion.
Wegen der langen Halbwertszeiten des Auswurfs wollte Sabine das Gebiet großräumig umfahren, während Bernd auf Google Maps-Routing setzte: „Da wohnen schließlich Leute.“ Unwillkürlich sah ich vor meinem geistigen Auge das Bild des Fötus mit den deformierten Zwillingsköpfen eingelegt in Reagenz-Gläsern der Größe „Kompott“ (russ.: [Κомпот] hausgemachter Saft aus gekochten Früchten). Panik machte sich breit.
Etwas beruhigter war ich, als ich las, dass die letzten oberirdischen Versuche bereits 1966 erfolgt sind. Doch was sind schon 50 Jahre bei einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren für Plutonium 239. Völlig aus den Socken haute mich dann bereits im letzten Jahr die Angebote einiger Reiseveranstalter, die Ausflüge zum Atomsee anboten. Der Schagan ist das Resultat des Programms „Atomexplosionen für die Volkswirtschaft“ – zivile Nutzung der Nuklearwaffen um buchstäblich „mit einem Schlag“ Dämme und Kanäle für großflächige Bewässerung der Steppe zu erschaffen. Neben dem skurrilen Panoramio-User Tetrix Tetrix, der seinen gelben Geigerzähler ohnehin in jedes Loch hineinhält, zeigen Bilder Reisegruppen mit zerfetzten blauen Plastiktüten an den Füssen am Rande eines durch Sprengung erschaffenen und radioaktiv verstrahlten Wasserreservoirs. Google-Translate tut wie überall im russischen Raum gute Dienste: Das Atomtestgelände sei für die Gesundheit nicht gefährlich: Nur die Alpha-Strahler dürfte man nicht einatmen. Deshalb würde es genügen, wenn man im Testgebiet nichts isst und somit auch keinen Staub einatmen würde. Der Staub an den Schuhen würde mit den Plastiktüten im Auto bleiben. - In unserem Toyo staubt es quasi gar nicht (Ironie) – an manchen Tagen wasche ich mir abends die verdreckte Nase aus.
An diese Beschreibung musste ich ununterbrochen denken, als wir im Abstand von 45 Kilometer an Kurtschatow vorbeifuhren. Wie immer ein dummes Zeitmanagement: Der Hunger siegte über die Vorsätze.
Die Protestbewegung Nevada-Semipalatinsk schaffte es schließlich: Nach 456 nuklearen Tests schloss Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew am 29. August 1991 das Polygon. Der Tag der Schließung ist heute der Internationale Tag gegen Atomtests. 2006 vereinbarten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan im Vertrag von Semei eine atomwaffenfreie Zone für Zentralasien gegen den Widerstand aus Russland, China und den USA.
Mit der Umbenennung in Semei versucht man zunächst den schlechten Ruf los zu werden und zu vergessen. Man wurde sogar so vergesslich, dass erst ein gerade in den Ruhestand versetzter amerikanischer Wissenschaftler Alarm schlagen musste: Bilder zeigten, dass Plünderer dabei waren mit schwerem Gerät Tunnels des Berg Degelen aufzubrechen. Die Russen gaben nur ungern zu, dass sie massenhaft waffenfähiges Plutonium zurückgelassen hatten. Erst als nach 9/11 Dokumente gefunden wurden, die belegten, dass Terrornetzwerke Pläne für schmutzige Atombomben hatten, setzten sich Politiker, Geheimdienste und Militärs endlich in Bewegung. Es dauerte insgesamt 17 Jahre bis Wissenschaftler und Ingenieure die Überreste versiegeln und ein Denkmal mit der Innschrift „1998 bis 2012 – die Welt ist sicherer geworden“ enthüllen konnten. (siehe u. a. "Plutonium Mountain" von Eben Harrell & David E. Hoffman)
Wir besuchen das Denkmal „Stärker als der Tod“ (Сильнее смерти) von Shota Valikhanov in Semei. Ein in Stein gemeißelter Atompilz gedenkt der Opfer der Atomtest. Vom Fallout sind hier rund 1,5 Millionen Menschen betroffen. Die Bewohner wurden nicht informiert und die medizinisch sehr genauen Dokumentationen wurden bis zur Unabhängigkeit Kasachstans geheim gehalten. Die Krebsraten in der Region sind 25 bis 30 % höher als im Rest des Landes. Ebenso berichten Forscher über signifikant gehäufte Genmutationen, Missbildungen, Behinderungen und höhere Selbstmordraten. Da sich das allerdings schwer nachweisen lässt, gibt es auch keine Entschädigungen. Die Menschen der Region müssen weiter mit der Belastung leben. Sie haben meist keine Mittel wegzuziehen. Das Gelände ist teilweise sogar wieder für Viehwirtschaft freigegeben. Erzeugnisse werden auf dem lokalen Markt angeboten. Ein taz-Journalist fragt einen Hirten, ob seine Kühe und Pferde auch zum Atomsee gingen: „Hier gibt es keine Zäune, wer sollte sie daran hindern.“
Wir verzichten darauf, in Semei unseren Wassertank zu füllen. Bis 1991 befand sich übrigens das größte Schlacht- und Fleischverarbeitungskombinat der UdSSR in Semei - jede Woche wälzte sich eine Herde von 2000 Schafen mit Geblök und Staubwolke aus der Mongolei durch den Altai den Jertis herab, um zu Büchsenfleisch für die Armee verarbeitet zu werden.
Eine Viertelstunde dengeln wir zurück und parken den Toyo südlich eines kleinen Sees auf der Schulter des Straßendamms und machen uns wieder mal – teilweise mit Flipflops bekleidet – ins hohe Grass auf, um die Null zu fangen. Zum Glück sind nur wenige Ameisen auf der dicken Ameisenstraße an der Konfluenz zu sehen. Die Licht-Stimmung ist mystisch.
Nach der Grenze und einem freundlichen „Welcome to Russia“ beziehen wir einen Schlafplatz am Bohnen-Feldrand.
Die Atomwaffen konnte Kasachstan mit der Unabhängigkeit einfach an Russland zurückgeben. Mit den strahlenden Hinterlassenschaften geht das nicht so einfach. Der Direktor von Kurtschatow‘s Radiologie Institut würde es gerne sehen, wenn das Polygon auf der Liste der Weltkulturerbe stände. Die Presse zitiert ihn „Das Testgelände ist ein Erinnerungsort für die Menschheit, nicht nur für uns hier. Mehr Menschen sollten davon erfahren.“ (siehe auch Video aller Atomtests 1945 bis 1998 des japanischen Künstlers Isao Hashimoto.)
Fortsetzung bei 55°N 83°E.
Weitere Reiseberichte unter www.afritracks.de.
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02-Jul-2016 -- Zoned out
From Issyk-Kul to Lake Baikal we ride our Toyo 6000 kilometers on the Siberian Route. Passing smoking funnels, former gulags, (nuclear) test sites and a "white grave" - the Steppe of Kazakhstan offers lots of space for historical and current gigantism. On the longest road in the world within a country, we are surprised by cultural richness of metropolises of Russia between swamps, birch forests and mosquito attacks. This continues the story of 52°N 75°E.
This 10 Kilometers more does not matter anyway. Bernd pulls the steering wheel around. After all, we drove past the simplest confluence of our Siberian tour. Our brain was already occupied by the next border formalities or perhaps by remembrance the last district metropolis Semey. Widely known as Semipalatinsk synonym for insane consequences of Cold War. Polygon (Russian for "shooting range") was the nickname for the nuclear test site of the former Soviet Union and Semipalatinski was administrative center, where the families of employees of the test area lived.
The village Beskaragay was proper and tidy. In front of each wooden house there was a green wooden storage rack offering locally produced goods. Honey, cherries, strawberries – a delicious invitation to stop immediately. This reflex was suppressed by taking a look at the GPS: 45 kilometers beeline to Kurchatov. Named after the director of science of the test site and thus the so called “father of the Soviet atomic bomb”. Here was once the control center. Wind direction exactly northeast – on to us and further into the Altai Mountains.
When planning our trip, we discussed often which route to take. Last year by accident we run into a ballistic test area. Therefore, this year we trying to figure out, what is out there. But we found hardly any public information because activities in the vastness of the Kazakh steppe were mostly military and therefore top secret. Even the names of the former closed zones usually were not printed on maps. Today, some restrictions are lifted, others are still closed, but often there are no barriers, or controls. So it is possible you find anything you do not want to find while visit confluences: Everything from uranium mining to anthrax production.
Because of long half-life of the emissions Sabine wanted to circumnavigate the area, while Bernd preferred Google Maps routing: "People living there as well." I imagined the fetus with deformed twin heads in reagent glasses of Size "Compote" (Russian: [Κомпот] homemade juice from cooked fruits). Panic spread.
I calmed down reading about the last aboveground test already had been carried out in 1966. But compared to half-life of 24,000 years for Plutonium 239 this was yesterday. I was completely swept off my feet by some tour operators offering trips to the atomic lake. Lake Chagan is result of the program “Nuclear Explosions for the National Economy” - civilian use of nuclear weapons to create dams and canals for large scale irrigation literally "at one blow". In addition to bizarre Panoramio user Tetrix Tetrix, taking selfies of his hand holding his yellow Geiger counter in every hole, pictures show tour groups wearing damaged blue plastic bags at the feet posing at the edge of a radioactively contaminated crater lake created by a nuke blast. Google Translate is doing an excellent job as everywhere in Russian speaking area: The nuclear test site is not dangerous to your health: Despite you should avoid breathe in alpha emitters. Therefore, it would be enough if you do not eat at the test area. The dust at the shoes would stay with the plastic bags in the car. There is almost no dust in our Toyo (irony) - on some days I flush my dirty nose in the evening.
I kept thinking of this description as we passed Kurchatov at distance of 45 kilometers. As always, stupid time management: Hunger conquers willful intent.
The protest movement Nevada-Semipalatinsk was finally successful: After 456 nuclear tests, Kazakhstan's President Nursultan Nazarbayev closed Polygon on August 29, 1991. Closure day today is International Day against Nuclear Tests. In 2006, Kazakhstan, Kyrgyzstan, Tajikistan, Turkmenistan, and Uzbekistan agreed on a nuclear-weapon-free zone in Central Asia despite concerns from Russia, China and the US.
By renaming Semey they try to get rid of bad reputation and as well to forget. They even forgot this way that a retired American scientist had to ring the bell: Pictures showed traces of looters breaking into tunnels of the mountain Degelen using heavy equipment. The Russians did not really want to speak about the left behind weapon-grade plutonium. Only after 9/11 when documents were found showing that terrorists like to have dirty nuclear bombs, politicians, intelligence agencies and military finally set in motion. It took 17 years until scientists and engineers could seal the remains and unveil a memorial bearing an inscription "1998 to 2012 - the world has become safer". (see "Plutonium Mountain" by Eben Harrell & David E. Hoffman)
We instead visit memorial monument "Stronger Than Death" (Сильнее смерти) by Shota Valikhanov at Semey. A carved in stone mushroom shaped cloud remembers victims of the nuclear tests. The fallout affected around 1.5 million people. Residents were not informed, and the medically accurate documentation was kept secret until independence of Kazakhstan. The cancer rates in the region are 25 to 30% higher than in the rest of the country. Similarly, researchers report significantly increased gene mutations, malformations, disabilities, and higher suicide rates. Since this is difficult to prove, there are no compensations. The people of the region must continue to live with contamination. They usually have not enough means to move. The area is partially released again for livestock. Products are offered on the local market. A German newspaper journalist asks a shepherd whether his cows and horses also went to the Atomic Lake: "There are no fences around, who should stop them?"
We avoid filling our water tank at Semey. By the way, until 1991, the largest slaughterhouse and meat processing complex of the USSR was located at Semey. Every week, a herd of 2,000 sheeps of Mongolia trample through the Altai and along the Jertis by baa and clouds of dust to be processed into canned meat for the army.
We drove fifteen minutes back and parked the Toyo south of a small lake at the embankment and started - again wearing flip flops - into the tall grass to catch the zero. Fortunately, only a few ants can be seen on the wide ant road at the confluence. The light was mystic.
After border formalities and a friendly "Welcome to Russia" we camped at the edge of the beans field.
Kazakhstan could simply return nuclear weapons to Russia after independence. It is not that easy with the contaminated heritage. The Director of Kurchatov's Radiology Institute would like to see The Polygon on the World Heritage List. Press quotes him by "The test site is a memorial place for humanity. More people should know about it." (see video of all nuclear test from 1945 to 1998 by Japanees artist Isao Hashimoto)
Continued at 55°N 83°E.
Further trip reports you can find at www.afritracks.net or www.afritracks.de.